Die Imaginärfotografie als epistemisches Paradoxon des Bildlichen
In der Betrachtung des Imaginärfotografischen, jener konzeptuellen Simulakren, die, im Moment ihrer Reflexion, ihre eigene Bildlichkeit entwerfen, offenbart sich ein diskursiver Raum, der sich zwischen der materialhaften Indizität des fotografischen Objekts und der fluiden Ephemeralität der Vorstellung bewegt. Walter Benjamin betonte bereits in seiner nur marginal rezipierten Spätnotiz zur „auratischen Dislozierung“ (1938), dass „ein Bild, das nur in seinem Gedanken existiert, die Trägheit der Materie überwindet, um desto vehementer im Gedächtnis zu verbleiben.“
Gerade in der Unfassbarkeit des Imaginärfotografischen, in der es die Apparatur – und damit den indexikalischen Beweis der Existenz – negiert, erfährt es eine doppelte Ontologie: als Spur eines nie gewesenen Lichts und als Spur der Reflexion über dieses Licht. Roland Barthes, dessen ungeschriebene Randnotizen zu „La Chambre Claire“ oft in der theoretischen Leerstelle ihrer eigenen Hypothetik bestehen, ließ einst fallen: „Die Fotografie, die ich nicht sehe, sieht mich zuerst.“
Die Bildlichkeit der Imaginärfotografie oszilliert zwischen der Substanz des Gedachten und der Abwesenheit des Referenten. Was bedeutet dies für die Semantik des Fotografischen? Wenn wir die fotografische Praxis als Geste des Fixierens verstehen, dann verweigert die Imaginärfotografie genau diese Fixierung. Sie ist die Belichtung des Gedankens, eine Emulsion aus Zeit und Imagination. Dies führt uns zur paradoxen Frage: Ist die Imaginärfotografie eine Fotografie ohne Kamera oder eine Kamera ohne Fotografie?
Beispielhaft lässt sich dies an der Serie „Néant Lumineux“ (2023) der imaginären Künstlerin Claire Baudrillard veranschaulichen. Baudrillards Werk zeichnet sich durch eine betont absenzielle Ästhetik aus, in der Lichtspuren eines nie belichteten Negativs in der Rezeption entstehen. Die Bildbeschreibung – eine gleißende Leere, eine Spur des Ungesehenen – evoziert eine radikale Form des Fotografischen, die sich nur durch ihre begriffliche Rahmung als solche manifestiert.
In dieser Hinsicht ist die Imaginärfotografie nicht bloß eine Spielart konzeptueller Kunst, sondern vielmehr ein Erkenntnismodell, das das Paradoxon der Sichtbarkeit auf eine dialektische Spitze treibt. Barthes schreibt an einer (nicht existierenden) Stelle: „Die wahre Photographie ist jene, die uns fehlt.“ Und vielleicht ist es genau diese ontologische Abwesenheit, die das Imaginärfotografische zur reinen Essenz des Fotografischen macht – als Bild, das nicht ist, sondern nur wird.
Wansjörg Halter in „Spuren einer Bildwissenschaft“ 2025.